Verzeihen

 

Wenn du sexuelle Gewalt erlebt hast, ist es niemals geklärt, niemals vorbei, niemals abgeschlossen. Es wird immer ein Thema bleiben in deinem Leben. Der sexuelle Missbrauch durch meinen Vater ist mehr als zehn Jahre her. Und trotzdem ist es ein Thema, welches ständig präsent ist. Das heißt nicht, dass ich unglücklich bin oder jedes Mal getriggert werde, wenn ich davon erzähle, darüber nachdenke oder etwas über das Thema lese. Im Gegenteil, ich finde es ein sehr wichtiges Thema und beschäftige mich viel damit. Ich kann offen darüber sprechen in einem Rahmen, in dem ich mich wohlfühle. Ich bin Teil einer Initiative, die sich gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen einsetzt. Viele Menschen aus meinem Umfeld kennen meine Geschichte. Ich rede regelmäßig darüber. Es ist ein Teil von mir.

 

Trotzdem bin ich nicht bereit zu verzeihen. Auch wenn ich diesen Gedanken hatte. In dem Bericht, den ich vor einigen Jahren für CouRage geschrieben habe, steht: Meinem Vater kann ich nicht verzeihen, meiner Mutter schon. Ich glaube, mich hat nie jemand direkt gefragt ob ich mir vorstellen kann zu verzeihen. Oder dass es besser wäre, zu verzeihen. Aber irgendwie umgibt einen trotzdem diese Frage. Dieses wabernde Gefühl, dass irgendwann doch der Zeitpunkt kommt, an dem man verzeihen sollte oder möchte. Häufig wird dabei darauf verwiesen, dass es vor allem einem selbst helfen würde. Zumindest wird es damit gerechtfertigt. Ich möchte den Akt des Verzeihens an sich nicht schlecht reden, ich denke er ist sehr wichtig für ein gesundes Miteinander. Aber mir geht es hier konkret um das Verzeihen von sexualisierter Gewalt (in der Kindheit/Jugend).

 

Ich bin der Meinung, dass es Betroffenen von sexualisierter Gewalt keineswegs hilft auf ihrem Weg mit dem was passiert ist umzugehen, wenn sie dem/der Täter:in verzeihen.

 

Menschen tun oft so, als hätte man einen Groll in sich und als würde man sich selbst mit den negativen Gefühlen kaputt machen, würde man nicht verzeihen.  Als könnte ich nicht glücklich werden, wenn ich nicht verzeihe und als müsste ich es tun, um damit abschließen zu können. Aber ich möchte gar nicht damit abschließen. Es ist ein Teil von mir. Und selbst wenn ich damit abschließen wollen würde, könnte ich das nicht, denn das sind Erinnerungen, die nicht einfach so verschwinden. Sie werden weniger, sie werden weniger schmerzhaft, sie werden ein Teil. Was ich möchte ist, damit umzugehen. Damit zu leben, ohne dass es mich einschränkt. Und das kann ich, ohne zu verzeihen.

 

Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Wut von Frauen tabuisiert ist. Teresa Bücker schreibt, dass es sogar radikal sei für Frauen, wütend zu sein. Warum? Weil Frauen in unserer Gesellschaft als weich, verletzlich und besonnen gelten. Ihnen wird abgesprochen, wütend zu sein. Und wenn sie doch wütend sind, dann werden sie oftmals nicht ernst genommen und als hysterisch bezeichnet. „Nicht wütend zu sein ist ein Privileg. Denn Wut ist eine angemessene Reaktion auf eine existierende Ungerechtigkeit. Wenn also den Menschen ihre Wut abgesprochen wird, die sich gegen ihre Diskriminierung engagieren, richtet sich die Kritik gegen das Anliegen selbst."[1] Wenn Betroffenen von sexualisierter Gewalt (in den meisten Fällen Frauen) also geraten wird, dass sie verzeihen sollten, geht es genau darum. Gefühle, Kritik oder Wut zu unterbinden. Aber Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, sollten jedes Recht, zu jeder Zeit, auch zwanzig Jahre nach dem Vorfall haben, wütend zu sein. Und sie haben jeden Grund dafür. Sexismus, sexualisierte Gewalt (an Kindern und Jugendlichen) und patriarchale Gewalt ist Alltag für viele Menschen. Und deshalb ein Thema, über das wir wütend sein sollten und müssen, solange es existiert.

 

Für mich ist das nicht-verzeihen also nicht nur ein individueller Akt, sondern auch ein politischer. Denn auch sexualisierte Gewalt ist kein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches. Dass ich und meine Schwestern von meinem Vater sexuell missbraucht wurden, ist kein Einzelfall, den nur unsere Familie betrifft, sondern ein Problem, das uns alle etwas angeht. Im Schnitt sind pro Schulklasse zwei Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen.

 

Ich habe das Gefühl, dass es beim Verzeihen also nicht um die Betroffenen, sondern viel mehr um die Täter:innen und um diejenigen Menschen geht, die sich auf die Seite der Täter:innen stellen. Es geht um diejenigen, die es anstrengend finden sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, um diejenigen, die keine Lust darauf haben darüber zu sprechen, um diejenigen, die wegschauen, wenn Kinder sexualisierte Gewalt erfahren, um diejenigen, die sich immer noch einreden es wäre ein Einzelfall, diejenigen die denken, das war doch gar nicht so gemeint, ich dachte du wolltest das, ich dachte ich tu dir etwas Gutes. Um diejenigen, die Betroffenen nicht glauben, nicht zuhören. Um diejenigen, die denken, das sexuelle Aufklärung nicht in die Schule gehört, um diejenigen, die den fremden Mann dafür verantwortlich machen.

 

Es geht um Konfliktvermeidung. Es geht um das nicht anerkennen wollen, dass es ein Problem gibt, welches mit Verzeihen aus der Welt geschafft werden kann. Es geht vor allem so weit, dass es Betroffenen zum Vorwurf gemacht wird, wenn sie sich dagegen entscheiden, zu verzeihen. Wenn sie wütend sind und sich von ihrer Familie abwenden. Wenn sie darüber sprechen wollen und eine Erklärung suchen. Wenn sie auch noch nach zehn Jahren darüber sprechen und immer noch darunter leiden.

 

Dahinter versteckt sich die ganz klare Haltung gegenüber Betroffenen: Wir sind nicht für dich da. Es ist dein Problem. Es ist deine Schuld, dass wir einen Konflikt in der Familie haben. Es ist: Täter-Opfer-Umkehr. Den Betroffenen wird einen Anteil der Schuld unterstellt.

 

Verzeihen heißt, es ist abgeschlossen. Verzeihen heißt, lass nicht mehr drüber reden. Verzeihen heißt, wir haben eine Lösung gefunden.

 

Ich denke, jede:r darf und muss für sich selbst entscheiden, ob er oder sie verzeihen möchte.

 

Ich entscheide mich dafür, nicht zu verzeihen. Ich entscheide mich gegen die Konstruktion einer heilen Familie. Ich entscheide mich dafür, mit allen Betroffenen solidarisch zu sein, welche sexualisierte Gewalt erfahren haben und erfahren.  Ich entscheide mich dafür, dieses Problem anzunehmen und solange dafür zu kämpfen, bis niemand mehr diese Gewalt erleben muss.  

 



[1] "Ist es radikal, wütend zu sein?" in der Süddeutschen Zeitung.

 

Zum Weiterlesen: "Philosophin über das Verzeihen" in der taz.

 

 

- MaLou -

 

 

 

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