Ich bin (nicht) wütend

 

„In meiner Kindheit habe ich sexualisierte Gewalt erfahren“- Worte, die ich schreiben kann, während ich mir vorstelle, es wäre lediglich eine Aneinanderreihung leerer Hülsen, ein Buchstabengerüst.
Worte, die ich noch immer nicht aussprechen kann, weil ihre Bedeutung so viel mehr umfasst als ihre harmlos nüchterne Syntax. Worte, deren gänzliches Ausmaß ich immer noch nicht ganz erfassen kann, nach all dieser Zeit.
Ich bin 4 und 5 und 6 und älter. Ich habe Angst und gleichzeitig habe ich auch keine Angst.
In all den Jahren Therapie umgehe ich das Wort „Täter“, weil es nichts von dem abbildet, was er für mich war. Weil es mir nicht gelingt ihn zu hassen für das, was war. Weil er der Held meiner Kindheit ist. Groß und stark und lustig und klug und warmherzig und spontan und abenteuerlustig und besorgt und liebevoll. Er zeigt mir, wie man Buden baut, Angeln auswirft und mit Wasserfarbe malt. Er steht schützend vor mir, um Bestrafungen aufzufangen, obwohl sie an mich gerichtet sind. Er steht schützend vor mir, um Wut zu beschwichtigen, die jetzt uns beiden gilt und hinter mir, als ich Radfahren lerne.

 

Und er trinkt.

 

So viel, bis die Flaschen leer und er ganz voll von Traurigkeit ist. Wir sind allein. Er und ich und seine Traurigkeit und ich fange beide auf.

 

Es fällt mir heute schwer von all dem als „Gewalt“ zu sprechen. Er war traurig und ich habe getröstet. Er schreit mich nicht an, er droht mir nicht, er zwingt mich nicht zu schweigen, mit keinem Wort.
Ich habe Angst und gleichzeitig habe ich auch keine Angst. Weil er in meinem Kopf jetzt jemand anders ist. Und ich ihm helfen muss. Wie er - wenn er nicht betrunken ist - der Einzige ist, der mir hilft und zeigt, was Abenteuer ist und dass und wie man Kind sein darf.

 

Manchmal wäre ich gern wütend. Wütend auf ihn. Weil ich rational weiß, dass das, was passiert ist, etwas in mir gebrochen hat, das nie wieder ganz werden kann. Aber ich bin nicht wütend. Nicht auf ihn. Und das kann vermutlich niemand je ganz verstehen.

 

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Es ist schwer in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen, weil ich mit meiner Geschichte nicht in das Bild passe, das dort von Missbrauch herrscht. Weil Missbrauch in der Gesellschaft laut ist, Missbrauch ist dunkel und hart, voller Gewalt und Hass und Furcht und Angst. Weil Täter eben Täter sind und schlecht aber niemals gut.
Weil wir so gern in Kategorien denken wollen. In Schwarz und Weiß und Gut und Böse, in Täter und Opfer und Mann und Kind. Und in dieses Bild fügt es sich auch nach allen Bemühungen nicht richtig ein, dass er meine Kindheit zu einem besseren und gleichzeitig dem schlimmsten Ort gemacht hat. Dass er mir gezeigt hat, wie man Kind sein darf und gleichzeitig essentielle Aspekte einer Kindheit nahm. Dass er versucht und geschafft hat, mich vor allem zu beschützen – nur nicht vor sich selbst.

Wütend bin ich auf  alle, die nichts bemerkt haben. Auf die, von denen ich heute weiß, sie haben es geahnt oder sogar gewusst, aber nicht gehandelt. Ich bin wütend auf die, die mir nicht geholfen haben. Ich bin wütend auf die, die mir nicht nur nicht geholfen, sondern verhindert haben, gesehen zu werden. Ich bin wütend auf die, die Worte und Angst verboten haben. Und das war niemals er. In all den Jahren war es niemals er. Es sind Frauenstimmen, die mein kindliches Ich im Schweigen halten. Es sind Frauenstimmen, die mir auch nach jahrelanger Therapie die „Mitschuld“ geben an dem, was war. Es sind Frauenstimmen, die ihre Mitschuld nicht sehen.
Ich bin wütend auf PädagogInnen, die mir heute sagen es habe auf der Hand gelegen, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich bin wütend auf Beteiligte, die sich heute öffentlich gegen Kindesmissbrauch profilieren als wäre es damals nicht in ihren Wänden geschehen, als hätten sie das Schweigen nicht erzwungen. Ich bin wütend auf all die Jahre Therapie, die seitdem folgten, auf Klinikaufenthalte, verlorene Kindheitsunbeschwertheit und verpasste Jugendabenteuer. Ich bin wütend wegen verpasster Lebenszeit. Ich bin wütend darauf, dass mein Leben nicht linear verläuft und ständig Wendungen nach unten macht. Ich bin wütend darauf, dass mit jedem Jahr, das ich älter werde, mehr Hoffnung schwindet auf ein „normales“ Leben. Ich bin wütend auf Menschen, die nicht verstehen, warum ich auf ihn nicht wütend sein kann. Ich bin wütend auf so vieles. Aber nie auf ihn. Weil er der Held meiner Kindheit ist. Groß und stark und lustig und klug und warmherzig und spontan und abenteuerlustig und besorgt und liebevoll. Und manchmal sehr, sehr traurig.

 

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Ich wünsche mir von der Gesellschaft, dass endlich erkannt wird, dass Missbrauch vielfältig ist und keine reine Frage des Geschlechts, Berufsstands, der Bildung, des Gehalts oder Alters.
Dass TäterInnen euch nicht ins Auge springen oder ein Schild vor der Brust tragen, das sie als solche identifiziert.
Dass TäterInnen über- oder unterdurchschnittliche Leben führen können.
Dass TäterInnen PädagogInnen sein können. Sozial engagiert. Oder MusikerInnen. Oder AnwältInnen. Oder ÄrztInnen. Engagierte Mütter oder Väter. Geschwister. Großeltern.  

TäterInnen sind nicht immer die Monster, für die wir sie gerne halten wollen.
Weil das besser in unser Schema passt und weil wir gerne glauben wollen, dass das Böse kenntlich ist.
Weil es Angst macht, dass das nicht so ist.
Weil es verlangt, dass wir hinterfragen und auf Dinge stoßen, die wir nicht sehen wollen.
Aber „das Böse“ ist genau da. Unter, neben, zwischen uns.

Ich wünsche mir von der Gesellschaft, dass ihr Kinder nicht nur betrachtet, sondern seht.
Dass ihr einem unguten Gefühl nachgeht.
Dass ihr handelt, wenn ihr ahnt oder wisst, dass etwas nicht stimmt.
Dass ihr Kindern glaubt.
Dass ihr nicht nur nicht wegseht, sondern euch endlich traut hinzusehen.
Dass auch ihr Courage zeigt.



-Naemi-

 

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