Wie sollen wir noch sprechen können?

„Glaubst du, dass du ihm das irgendwann verzeihen kannst?“
Uns blieb beinahe der Atem stehen.
„Er ist doch selber psychisch krank.“
Unser Magen zog sich zusammen und ich hatte das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren.
„Er bereut das sicher.“
[„Das ist mir vollkommen egal!“ schrien die Stimmen in meinem Kopf.]


Nachdem wir Anzeige gegen unseren Onkel erstattet haben, blieb es lange Zeit erst mal still.
Die Anzeige hatten wir extra in einem weit entfernten Ort erstattet, da wir mit der Polizei in unserem Heimatort schlechte Erfahrungen gemacht haben, aber das ist eine andere Geschichte.
Als er seine Vorladung bei der KriPo erhielt, begann der reinste Telefonterror. Aufgrund seiner eigenen Tra*matisierungen und seiner Alkoholsucht, welche seit knapp dreizig Jahren existiert, war er geistig schon immer in einer - sagen wir - schwierigen Verfassung.
Wir hatten zahlreiche Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, welche von Schuldeingeständnissen über Beschimpfungen gingen, als Beweis wurden diese für das Strafverfahren jedoch nie zugelassen, da sein betrunkenes Selbst bei seiner 5-minütigen Vernehmung „Ich habe sie nicht missbraucht“ stammeln durfte und er war entlastet. (Das wissen wir, weil uns das die Beamtin der KriPo inoffiziell erzählte.)


Wir hatten uns in einem stundenlangen Aussagepsychologischen Gutachten zu erklären, sollten die Taten so detailliert wie möglich wiederholen und jeden kleinen, erinnerbaren Fetzen so gut wie möglich beschreiben.
Das Problem ist, es gibt nicht diese eine klare Traumaerinnerung, wenn man über 9 Jahre schwer missbraucht wird, und erst recht gibt es diese eine Erinnerung nicht, wenn man aufgrund der schweren Traumatisierungen nicht in der Lage war, zu einer einzelnen Persönlichkeit heranzuwachsen.


In unserem Rechtssystem läuft etwas eindeutig falsch. Täter- vor Opferschutz ist die Übersetzung des Satzes „Im Zweifel für den Angeklagten“, sicher gibt es Einzelfälle in denen jemand zu Unrecht beschuldigt wird. Dennoch fragen wir uns, warum es nicht wenigstens die Voraussetzung gibt, dass sowohl der/die Angeklagte als auch der/die Anklagende sich einem Aussagepsychologischen Gutachten unterziehen müssen.
Wenn man sich an Hilfsorganisationen wendet oder allein auch nur darauf achtet, was einem Personen raten, welche sich in der Politik mit Kindesmissbrauch beschäftigen, dann kommt immer wieder das Thema der Anzeigenerstattung auf. Vielleicht waren wir naiv, als wir dachten, dass man tatsächlich im Nachhinein für das Erlebte Gerechtigkeit erfahren könne. Wie unfassbar schwer es ist, ein Strafverfahren zu bekommen, wenn der Missbrauch in der Kindheit stattgefunden hat, das sagt einem aber niemand.
Da wird man nach Fotos und Videoaufnahmen gefragt, als wäre ein kleines Kind in der Lage diese beim Missbrauch zu machen und wenn es Fotos und Videoaufnahmen gibt, dann liegen diese doch bei den Tätern, die bekommt man nach dem aufgenommenen Missbrauch nicht in die Hand gedrückt, sowie einen „Actionschnappschuss“ nach der Achterbahnfahrt.


In Deutschland gibt es das OEG, eine Möglichkeit, lebenslange Entschädigungszahlungen zu erhalten, wenn der deutsche Staat nicht in der Lage war, einen vor Gewalttaten zu beschützen. Das hört sich sicher erst mal toll und schön an, gestaltet sich jedoch schwieriger als man denken mag. Anzeige zu erstatten ist dafür eine Notwendigkeit, auch wenn einem von diversen Hilfsorganisationen gesagt wird, dass man in Einzelfällen auch OEG ohne eine Anzeige erhalten könne und selbst wenn man es geschafft hat Anzeige zu erstatten, ist die Verurteilung des Täters/ der Täterin ein wichtiger Punkt, den man zu erfüllen hat um für das OEG überhaupt näher in Betracht gezogen zu werden.


Also zurück zu der Anzeigenerstattung.
Besonders beim Straftatbestand Kindesmissbrauch haben die Opfer meist nicht mehr Beweise, als die daraus resultierenden psychischen Erkrankungen, welche von Sucht über Depressionen, zu PTBS, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen etc., also den gesamten ICD der psychischen Erkrankungen abdecken können. Psychische Erkrankungen, bei welchen therapeutische Unterstützung zwingend notwendig ist. Jedoch ist es so, dass einem von Seiten der Justiz im Falle einer Anzeigenerstattung bei Missbrauch dringend davon abgeraten wird sich in Therapie zu begeben, da diese einem negativ ausgelegt werden könnte - die Therapeuten könnten einem ja schließlich die Erinnerungen nur eingeredet haben (Stichpunkt False Memory Syndrom) und des Weiteren lassen einen bestimmte Diagnosen wie z.B. die Borderlinepersönlichkeitsstörung oder auch die Dissoziative Identitätsstörung vor Gericht unglaubwürdig wirken. Borderline Betroffene gelten als manipulativ und als Meister im Lügen erfinden und bei Multiplen wisse man ja nie, wer da gerade etwas erzählen würde. Das wurde uns so von diversen Anwälten gesagt.


Dass es mitunter der größte Kraftakt für Opfer von sexueller Gewalt ist , ihr Schweigen zu brechen und dies meist eine Symptomverschlechterung beinhaltet, bei welcher therapeutische Unterstützung zwingend notwendig ist, scheint vollkommen egal zu sein und wenn man dann versucht, diesen ganzen Kraftakt ohne therapeutische Hilfe durchzustehen, dann steht man immer noch vor dem Problem, dass man meist keine Beweise hat, dass Aussage gegen Aussage steht und die Täter mit einem kurzen „Nein war ich nicht“ oder im Falle eines familiären Bezuges mit dem Zeugnisverweigerungsrecht ihren Kopf aus der Schlinge ziehen können.


Also wie sollen wir, wir die traumatisierten Opfer von sexueller Gewalt, unter diesen Voraussetzungen noch den Mut aufbringen Strafanzeige zu erstatten, warum genau sollte man es sich unter diesen Voraussetzungen noch trauen, sein Schweigen zu brechen?
Deutschland wir fragen dich: Wie beschützt du deine Kinder?!

 

 - @stummer_aufschrei -

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