Traumanachwirkungen

„Glaubst du, dass du einen Fehler gemacht hast?“ fragt die Pflegerin in der Psychiatrie und ich finde keine angemessene Antwort. „Schuld, Schuld, Schuld!“ schreien die Stimmen in meinem Kopf und mein linkes Ohr wird plötzlich taub. Hörsturz, der nächste.

 

 

Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich direkt oder indirekt vermittelt bekommen habe, dass ich selbst Verantwortung tragen würde für die Gewalt, die man(n) mir angetan hat.

 

 

„Aber wenn du das nicht wolltest, wieso bist du dann nicht einfach gegangen?“ fragte mich die Staatsanwältin allen Ernstes, als ich mit 16 in einem Raum voller Menschen und vor einer Videokamera die intimsten und beschämendsten Details meiner Geschichte ausbreiten musste. „Weil ich fucking 10 Jahre alt war und einer Gehirnwäsche unterzogen wurde!“ möchte ich heute in die Welt hinausbrüllen. Dennoch bleibe ich meistens stumm, weil die Angst vor abschätzigen Blicken und Verurteilung in mir tobt. „Und was, wenn du es doch selbst wolltest?“ flüstert eine fiese Stimme in meinem Hinterkopf und ich fange dummerweise an, mit ihr zu diskutieren, doch im Krieg zwischen mir und mir kann ich nur verlieren.

 

 

„Du musst deine Wut nach außen richten, dort, wo sie hingehört“ meint meine Therapeutin, als ich nach der nächsten Selbstverletzung heulend vor ihr sitze und ich weiß, dass sie recht hat, dennoch will ich gar nichts müssen. Außerdem hat der Staat Österreich befunden, dass mein jahrelanger Vergewaltiger im Zweifel freizusprechen ist, und wenn es nicht seine Schuld war, muss es die meine gewesen sein. So habe ich immerhin jemanden, den ich dafür bestrafen kann, also fahre ich damit fort, im Dissoziationsnebel blutrote Bilder auf meine Haut zu malen mit einer Klinge aus Scham, die nicht mir gehört.

 

 

Nach dem xten Klinikaufenthalt geht es mir etwas besser und ich fange tatsächlich an, wütend zu werden. Nicht auf den Täter, nein, das kann ich mir (noch) nicht erlauben, aber auf die Gesellschaft, deren verdammter Job es war, mich und das statistisch betrachtete zweite Kind in meiner Schulklasse, das sexualisierte Gewalt erlebt hat, zu schützen und die darin kläglich versagt hat und es immer noch tut.

 

 

Und während nachts Albträume meine Wände tapezieren, beginne ich zu schreiben, um dem Unsagbaren seine einzige Waffe zu nehmen – die Stille. Ich merke, dass die Flashbacks weniger werden, je mehr ich meinen Ängsten vom Mut erzähle und mich in sicherem Rahmen mitteile, und beschließe – ich werde laut heilen, weil ich schon zu oft in der Stille kurz vorm Sterben war.

 

 

Manchmal falle ich in alte Verhaltensmuster zurück, schließe mich in meinem Kopf ein und diskutiere die altbekannte Schuldfrage, weil die Glaubenssätze tief in mir verankert sind, aber ich mache immer mehr korrigierende Beziehungserfahrungen und lerne, nicht alles unhinterfragt anzunehmen, was mein Kopf so ausspuckt. „Ich bin nicht mehr klein und hilflos“ sage ich mir mehrmals pro Tag, weil ich es im Strudel der Emotionen allzu leicht vergesse, seit ich wieder angefangen habe zu fühlen. Und das ist für mich die Essenz der Traumaheilung – Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten zu haben, sich nicht mehr ausgeliefert zu fühlen.

 

 

- Marlene -

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Mirjana (Dienstag, 18 Februar 2025 23:26)

    Sehr starker Text zu sehr schwierigem Thema! � Mir fiel es nie schwer, auf andere sauer zu sein, ich habe schon als Teenagerin lautstark gegen meine Eltern gewütet. Ich konnte es deshalb zuerst garnicht nachvollziehen, als mir meine Schwester erklärt hat, warum sie sich selbst verletzt. Aber es war genauso wie bei dir, sie konnte es nicht rauslassen, auslassen an denen, die ihre Wut verdient hätten. Aber jetzt kann sie nach viel Skill-Training und jahrelanger Therapie besser ihre Gefühle ausdrücken und ich freue mich richtig, wenn sie auch mich mal wegen irgendwas zur Schnecke macht haha � Auch sie hat ihre Eigenkraft, ihre Entscheidungsmacht nach langem Kampf zurückgewonnen und ich bin so stolz auf sie und auf dich und alle, die diesen schweren Weg gehen müssen! � ganz viel Liebe

  • #2

    Eva Meingassner (Freitag, 21 Februar 2025 08:42)

    Sehr nachvollziehbar und berührend. Da ist ein großer Schritt gelungen, der sicher weiterhilft! Das ist dir sehr zu wünschen! Schleppe die Verantwortung nicht länger mit dir herum, sie liegt IMMER beim Erwachsenen . Bleib dran liebe Marlene, es wird wahrscheinlich dauern, aber es wird gut werden. Viele Kräfte helfen mit!

  • #3

    Christa Wiesauer - Luckeneder (Freitag, 21 Februar 2025 18:54)

    Liebe Marlene!
    Es ist für dich ein großer und wichtiger Schritt, die Verantwortung dorthin zu schieben, wo sie hingehört! Nämlich immer zu den Erwachsenen! Das ist der erste Schritt zur Selbstheilung. Ich bin mir sicher, du schaffst es. Mich hat dein Text sehr berührt, weil er mich auch an die Geschichten von anderen Mädchen erinnert, die ich im Laufe meines Berufslebens (Sozialarbeit) kennengelernt habe.
    Ich wünsche dir Mut und Kraft auf diesem Weg!