Anna-Lena

"Ich dachte, sie würden dann mich verurteilen, mir die (Mit-)schuld geben oder mich zumindest nicht mehr mögen. Dieser Gedanke war schrecklich genug, um es nicht zu sagen."


meine Erlebnisse

Ich wurde von meinem Vater ungefähr vier Jahre sexuell missbraucht, als ich zwischen 11 und 15 Jahre alt war. Zumindest wenn ich mich richtig erinnere.

 

Ich weiß, dass es regelmäßig passiert ist, allerdings erinnere ich mich nur noch an einzelne Momente.

 

Er hat mich nachts immer wieder besucht, teilweise bis zu zwei Mal in der Woche, manchmal auch wochenlang nicht.

Er kam abends oder nachts irgendwann zu mir ins Zimmer, in Unterwäsche, und hat sich zu mir ins Bett gelegt. Dann hat er angefangen mich zu berühren, hat meine Brüste angefasst und daran gesaugt, meine Brustwarzen bewegt und mir gesagt, wie schön meine Brüste seien. Er ist mit seinen Händen in meine Unterhose gewandert und hat meine Vulva berührt, gestreichelt und teilweise habe ich gleichzeitig seinen Penis berührt. Ich hatte das Gefühl dazu verpflichtet zu sein, irgendwann hat er nämlich mal meine Hand auf sein hartes Glied gelegt und geführt, und daraufhin hab ich es immer wieder gemacht, weil ich dachte, ihm etwas zurückgeben zu müssen, auch wenn ich es immer total abstoßend und eklig fand. Ich wusste nie wie und es hat sich immer so komisch angefühlt, ich habe mich immer gefragt, wie man es mögen kann, mit Männern und ihren Penissen Sex zu haben. Dann hat er mich solange berührt, bis ich einen Höhepunkt hatte. Es war bis zu diesem Moment eigentlich immer so, dass ich halbschlafend war bzw. alles irgendwie passiert ist, ich nicht klar denken konnte und mitgemacht habe, ihm teilweise sogar die Decke hochgehalten habe, damit er drunterschlüpfen kann, wenn er kam. Währenddessen habe ich mir überlegt, ob die Anderen denn nichts mitbekommen, vor allem, wenn es noch nicht so spät war, und ich wusste, dass vor der Tür jemand sitzt oder einer meiner Geschwister im Nebenzimmer wach ist. Durch den Höhepunkt habe ich dann gemerkt, was da passiert, ich wurde schlagartig wach und habe mich immer sofort weggedreht und mich ganz flach und regungslos auf den Bauch gelegt. Dann ist er gegangen.

 

Währenddessen habe ich mir überlegt, ob die Anderen denn nichts mitbekommen

 

Ich kann mich an eine Situation erinnern, irgendwann tagsüber, als ich mit ihm auf der Treppe stand, die Unter- und Obergeschoss verbindet, und er mich bzw. wir uns geküsst haben, so richtig schlabberig eklig Zungenkuss. Und ich weiß noch, dass ich auch da wusste, dass wir nicht alleine in der Wohnung sind, dass jederzeit jemand vorbeikommen könnte und was denn meine Mutter sagen würde, wenn sie uns sehen würde.

Als wir im Urlaub waren und an einem See Rast gemacht haben, saßen wir nebeneinander im Auto und hatten eine Decke über uns, und dann ist er mit seiner Hand in meine Hose und hat mich berührt. Und es saßen noch andere im Auto, ich weiß nicht mehr wer genau, nur ein paar Meter entfernt.

Einmal waren wir spazieren, und ich hatte meine Hand in seiner Hosentasche, und habe seinen Penis berührt. Ich weiß nicht warum, nur, dass er mich nicht dazu gezwungen hat.

 

Während dieser Zeit habe ich mich auch irgendwann gefragt, was passieren würde, wenn es meine Mutter mitbekommt oder ich es ihr erzähle, und ich wusste, dass es nicht sein darf.

 

Weil was würde sie nur denken, wenn sie wüsste, dass mein Vater meine Brüste und meine Scheide anfasst, dass er sich nachts aus dem Zimmer schleicht, um zu mir zu kommen? Ich dachte, sie würde dann mich verurteilen, mir die (Mit-)schuld geben oder mich zumindest nicht mehr mögen. Dieser Gedanke war schrecklich genug, um es ihr nicht zu sagen.

 

Und ich habe mich, als ich älter war, also vielleicht so zwischen 14 und 15 Jahren, auch gefragt, was passieren würde, wenn ich schwanger werden würde. Was er sagen würde, was ich sagen würde, was passieren würde, ob Mama dann offizielle die Mutter wäre… Er ist zwar nie in mich eingedrungen (zumindest kann ich mich nicht daran erinnern), aber ich hatte irgendwo gelesen oder gehört, dass man anders schwanger werden kann, wenn das Sperma irgendwie in die Scheide kommt.

Wenn Klassenkameradinnen oder Freundinnen über Sex geredet haben und darüber, dass sie es noch nie gemacht haben, wusste ich nie, was ich sagen soll. Weil ich wusste, es war anders, und gleichzeitig wusste ich auch mehr als sie. Trotzdem habe ich letztendlich immer wieder beschlossen, nichts zu sagen und so zu tun, als hätte ich auch keine Ahnung davon. Gewissermaßen hatte ich das ja auch nicht.

Mein Schmerz

Ich kann mich an einmal erinnern, es war Sommer und noch hell, ich bin ins Bett, er war allerdings noch draußen und hat mit einem meiner Brüder Tischtennis gespielt. Das habe ich aus dem Fenster gehört und bin nochmal runter an die Tür, um ihn zu fragen, ob er denn nachher noch vorbeikäme.

 

Die ganze Sache kam raus, als meine kleine Schwester das Tagebuch meiner älteren Schwester las und dadurch entdeckte, dass sie nicht alleine ist. Kurz darauf habe ich mich in mein Zimmer eingesperrt und gefühlt stundenlang bitterlich geheult, weil ich zwar wusste, dass es nicht nur mir passiert ist, ich mir aber sicher war, dass mich niemand versteht, auch nicht meine Schwestern,

 

weil ich doch irgendwie selbst schuld war,

 

ich hatte ihn sogar teilweise zu mir eingeladen, ich habe mich nie gewehrt, mein Körper hat auf ihn reagiert, ich bin gekommen, ich habe ihn berührt, ohne dass er mich dazu gezwungen hat, er hat „nur“ anfangs irgendwann meine Hand auf seinen Penis gelegt und sie geführt, und danach hab ich es immer wieder gemacht, weil ich dachte, es gefällt ihm.

Ich glaube ich habe einmal (nachdem es rauskam) versucht mit meiner Schwester darüber zu reden, hatte aber aufgrund ihrer Aussagen nicht das Gefühl, dass sie mich versteht. Daraufhin habe ich und auch die Anderen die ganze Sache irgendwie verdrängt, wir waren einmal direkt nach dem es rauskam zu dritt bei einer Psychologin, wo wir über unseren Schutzengel geredet haben, mein Vater hat weiterhin bei uns gewohnt, er war bei einer Psychologin (der gleichen, bei der auch wir waren), meine Brüder wussten nichts davon

 

und es war, als wäre nichts passiert.

 

Ein bisschen hat sich schon geändert, irgendwann ist er ausgezogen, war aber immer noch regelmäßig da, schon allein wegen meinen Brüdern. Ich habe immer wieder mal mit meiner Mutter drüber geredet, weil es doch langsam hochkam, und als mein Vater dann schließlich kurz davor war eine längere Reise anzutreten, entschloss ich mich, ungefähr vier Jahre nachdem es raus kam, ihn mal persönlich zu fragen, warum er es gemacht hat, was wirklich seine Gründe waren (ganz am Anfang hat er nämlich gesagt, dass er dachte, dass er uns etwas Gutes damit tut).

Anfangs war das Gespräch relativ einfach, ich wurde allerdings immer verkrampfter. Er meinte wieder, dass ihm nicht bewusst gewesen sei, dass er etwas Schlechtes macht, er hat mir nochmal gesagt - zwar mit dem Verweis, mir nicht die Schuld an irgendetwas geben zu wollen – dass er sich von mir auch immer eingeladen gefühlt hätte. Was auch ein Grund gewesen sei, warum es bei mir so lange passiert sei, im Gegensatz zu meinen Schwestern. Er hat gesagt, dass es ihm, seit es rauskam, immer wieder sehr schlecht gehe, er sich frage, wie er damit umgehen soll und wie er uns helfen soll und dass er sich auch überlegt habe, sich umzubringen. Später im Gespräch ging es noch darum, warum sich Frauen teilweise so knapp bekleidet anziehen, und er etwas in der Art sagte, dass sie damit ja bewusst provozieren würden und selbst wollten, dass man ihnen körperlich näher kommt.

Nach diesem Gespräch wusste ich etwas mehr, dass er es nicht realisiert, was da eigentlich passiert ist. Am diesem Abend ging es mir richtig schlecht, ich habe stundenlang geheult, ich wollte schreien, meinen Kopf gegen die Wand schlagen,

 

ich habe mich innerlich so kaputt und zerkratzt gefühlt, zerrissen,

 

ich wollte mir wehtun und habe angefangen meine Arme an herausstehenden Nägeln in der Wand zu zerkratzen. Ich war völlig verzweifelt, einerseits war es glaube ich das erste Mal, dass zum ersten Mal wirklich etwas davon an die Oberfläche kam, was wirklich passiert ist, ich habe mich schlecht gefühlt, weil ich trotz allem Angst hatte, dass sich mein Vater auf seiner kommenden Reise vielleicht umbringt, was gewissermaßen wegen mir wäre, zumindest hat es sich so angefühlt. Und gleichzeitig hat es mich zum Verzweifeln gebracht, weil ich das Gefühl hatte, kaputt zu sein, schuldig zu sein, ich war mir sicher, dass niemand mich versteht, weil letzten Endes ja doch ich irgendwie Schuld hatte, ich habe ihn eingeladen, ich habe nichts dagegen gemacht, mein Körper hat darauf reagiert.

 

Die Tage danach habe ich mich völlig ausgebrannt und gefühllos gefühlt, ich wusste davor nicht, dass es so ein Zustand gibt. Mir war alles egal, ich habe mich wie Watte angefühlt, leer, ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich will, was ich mache, irgendwie gab es keinen Sinn mehr.

Diesen Zustand habe ich nur überwunden, weil ich genau in der Zeit meinen Freund kennenlernt habe. Dadurch kam ein Jahr, wo es zwar nochmal mehr hochkam, ich es aber gleichzeitig meistens erfolgreich verdrängte.

 

Bis jetzt die letzte Entwicklung war schließlich, als wir uns dafür entschieden, es meinen Brüdern zu sagen. Durch die Zweifel von Anderen bezüglich der Dringlichkeit dieser Aufdeckung wurde mir nochmal bewusst gemacht, dass sexueller Missbrauch nicht als Verbrechen angesehen wird und das Wohl meiner Brüder wichtiger ist als mein Bedürfnis, darüber zu reden.

 

Und dank der klaren Haltung meines Bruders wurde mir endlich bewusst, zumindest theoretisch, dass mein Vater ein Verbrechen begangen hat, dass sein Verhalten durch nichts zu entschuldigen ist, dass ich komplett unschuldig bin, und das dies auch bedeutet, dass ich darüber reden darf, dass ich eigentlich keinen Grund habe mich zu schämen oder die Wahrheit zu verschweigen.

Warum ich immer noch lebe

Manchmal weiß ich selbst nicht, warum ich noch lebe. Es gibt immer wieder Momente, wo ich mich immer noch innerlich kaputt fühle, mich aufkratzen oder schlagen will und am Verzweifeln bin.

 

Ich lebe, weil ich zumindest theoretisch weiß, dass ich unschuldig bin, und ich inzwischen auch weiß, dass es viele andere Überlebende gibt, die ähnliches erlebt haben und auch dachten, sie seien schuldig.

 

Ich lebe, weil mir Menschen versichert haben, dass ich mich nicht schämen muss, auch wenn ich ihn scheinbar eingeladen habe. Kinder sind abhängig von ihren Eltern und es wäre für Kinder völlig „absurd“, sich gegen die eigenen Eltern oder Vertrauenspersonen zu stelle. Es ist völlig normal, dass man Liebe und Zärtlichkeit von seinen Eltern möchte. Es ist Aufgabe der Eltern, dieses Bedürfnis nicht zu missbrauchen und dadurch das Grundvertrauen in Menschen zu zerstören.

 

Ich lebe, weil ICH meine Tochter nicht enttäuschen möchte, und ich nicht noch mehr Schmerz verursachen will.

 

Ich lebe, weil ich unschuldig bin. Ich bin NICHT schuldig. Ich habe nichts Falsches gemacht, ich bin diejenige, die missbraucht wurde. Ich wurde benutzt und mein Vertrauen und meine Liebe wurde zerstört.

 

Ich lebe, weil ich eine Überlebende bin. Ich habe es bis jetzt geschafft, und ich werde es auch weiterhin schaffen.

 

Ich lebe, weil ich mir wünsche, dass es in Zukunft immer weniger Menschen gibt, die sich aufgrund sexuellen Missbrauchs selbst und ihre Daseinsberechtigung infrage stellen.