* Menschen mit Behinderungen sind oftmals von Stigmatisierung betroffen. Wenn bekannt wird, dass diese Personen zusätzlich Überlebende von sexuellem Missbrauch und dadurch traumatisiert sind, ist eine doppelte Stigmatisierung sehr wahrscheinlich. Diese Stigmatisierung führt zum Beispiel dazu, dass betroffene Personen nur sehr schwer einen Arbeitsplatz finden.
Aus diesem Grund veröffentlicht Mia (Alias) ihren Bericht anonym. *
Ich wurde mit einer Körperbehinderung und einem Herzfehler geboren. Darum lernte ich eingeschränkt laufen und hatte einige Operationen. Durch diese Umstände erhielt ich bereits seit dem Säuglingsalter immer wieder leidvolle Therapien. Diese bedingten, dass ich weniger Vertrauen zu meiner Mutter hatte. Ich weinte und schrie jeden Tag bei manchen dieser Therapien. Polizei und Nachbarschaft wussten bald: Da wohnt das behinderte Mädchen und ihr Weinen ist nur nötige Therapie.
Etwa seit ich 4 Jahre alt bin erinnere ich mich an gewaltsame Wutanfälle meines Vaters, die so arg waren, dass wir flüchten mussten, um sicher zu sein. Meine Mutter und meine unbehinderten Geschwister konnten entkommen. Ich war einfach zu langsam. Darum traf es mich.
Er schlug mich und begann mich mittels verschiedener sexueller Handlungen zu missbrauchen z.B. auch dann, wenn ich beim Duschen Hilfe brauchte, weil das Bad nicht barrierefrei war.
Er zwang mich auch Filme voller Gewalt an Frauen und Kindern anzusehen. Ich weinte, und wehrte mich anfangs. Aber dann wurde er sauer und nur noch gewalttätiger. Hin und wieder versuchte ich zu flüchten. Meist stürzte ich dann, entkam seiner Gewalt nie und war nur noch verletzter.
Als ich 6 Jahre alt war, vergewaltigte er mich erstmals, unmittelbar nachdem er mich verprügelt hatte… Als ich klein war, schrie und weinte ich aus Angst und Schmerz. Ich nehme an Nachbarn dachten: „Sie schreit nur wieder wegen der Therapien.“ Mein Vater drohte mir so, dass ich niemandem sagte, was geschah und Verletzungen versteckte.
Er sagte u. a. auch, wenn andere es erfahren, käme ich in ein Heim und das sei schlimmer als zu Hause. Das glaubte und fürchtete ich lange.
Als ich 10 Jahre alt war, wurde ich zudem vom Personal in einem Krankenhaus schwer missbraucht. Seitdem wollte ich eine Psychotherapie machen. Aber meine Eltern ließen das nie zu.
Ich war so beansprucht von den Erschwernissen der Behinderung, den Operationen, schulischen Pflichten und der Gewalt, dass mir nach der Grundschule keine Zeit und Kraft mehr für Hobbies oder Freunde blieb. Ich hatte also nur meine Familie. Das diente weiter als Deckmantel.
Mit 12 Jahren entdeckte ich bei einem Arzt Visitenkarten einer Mädchenberatungsstelle.
Dort anzurufen wagte ich mich nicht, da unser Kabeltelefon mitten im Flur stand und man damals auf Telefonrechnungen jede gewählte Nummer sehen konnte. Durch meine Behinderung konnte ich die Beratungsstelle nicht ohne Hilfe erreichen, weder der Weg dorthin noch das Haus, indem sie sich befand, waren barrierefrei, Internet gab es noch nicht. Der eingeschränkte Zugang zur Gesellschaft bedingte auch, dass ich länger nicht wirklich begriff, was geschah, obgleich ich immer wusste, ich finde es furchtbar. Ich war nicht aufgeklärt.
Manche körperlichen Folgen der Gewalt, aber auch typische psychische oder sozio-emotionale Probleme erklärten meine Eltern ebenso wie Ärzte, Lehrer oder Pädagogen immer wieder fälschlicherweise mit der Körperbehinderung. So blieb alles verborgen.
Mit 15 lebte ich kurzzeitig auf der Straße, aber auch dort herrschte viel Gewalt und ich war mir bald sicher, dort auch nicht überleben zu können. Ich kehrte zu meinen Eltern zurück, und ich setzte meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit einem Studium.
Ich versprach mir, noch bis zum Abi durchzuhalten und dann in eine andere Stadt zu ziehen und Hilfe zu suchen. Das tat ich. Aber mein Vater tauchte auch in der 300km entfernten Stadt und in meinen Wohnungen auf. Ich brach mein Studium unter Symptomen und den Belastungen ab.
Nach einem Suizidversuch mit 21 Jahren sollte ich zur stationären Psychotherapie in eine psychosomatische Klinik. Doch weder diese noch ambulante Psychotherapieplätze waren barrierefrei. Es dauerte 6 Jahre geeignete zugängliche Therapieplätze zu finden.
Der Missbrauch durch meinen Vater endete gänzlich, als ich 31 Jahre alt war, endlich in geschütztem Rahmen offenlegen und mit professioneller Hilfe erneut in eine andere Stadt ziehen konnte. Kurz darauf starb mein Vater überraschend.
In der Folge der Gewalt lebe ich heute mit schwersten Traumafolgestörungen. Dank fundierter Therapie und guten Freunden begann ich mit 32 Jahren ein Studium und lebe jetzt zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Zukunftsperspektive, allein, sicher und ausreichend barrierefrei.
mail@cou-rage.de
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