Nelly

Hinterkopf von Nelly, in schwarz-weiß

"Wir sind keine Dunkelziffer. Wir sind Menschen und wir brauchen hilfe UND Sicherheit"


 

 Gern erzähle ich etwas zu meiner aktuellen Situation. Ich bin 35 Jahre alt und seit vielen Jahren berufsunfähig und erhalte eine kleine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Ich habe sogar Abitur geschafft und sowohl ein abgeschlossenes Studium und eine Ausbildung. Erst später habe ich gelernt, dass es für einige Menschen mit dissoziativer Störung nicht unüblich ist "normal" zu agieren, da es bis dato keine Erinnerungen an damals in mein Alltagsbewusstsein geschafft haben.

Natürlich habe ich bemerkt, dass ich härter arbeiten musste als andere und extrem vergesslich war und immer wieder an Alpträumen, SVV und Essstörungen litt, aber ich war davon überzeugt einfach nur sehr sensibel und dümmer als die anderen zu sein. Mit Ende 20 und einem einschneidenden Erlebnis kam der Zusammenbruch und die Erinnerungen.

 

All die grausamen Dinge, die ich für Alpträume hielt, sind wohl wirklich geschehen oder spiegelten zumindest meine Gefühle zu diesen Zeitpunkten der Todesnähe wieder.

 

 Grundsätzlich habe ich aber sehr wenige Erinnerungen an meine Kindheit, ich weiß nicht, wie mein Kinderzimmer aussah, unsere Wohnung, was wir dort gemacht haben, wie habe ich meine Freizeit verbracht, hatte ich Freunde, wie war es in der Schule. Wie war später meine Ehe, waren wir im Urlaub und und und. Meine bildhaften Erinnerungen (also mehr als nur Faktenwissen) beginnen erst mit Ende 20. Und manchmal macht mich das unfassbar traurig, diese Lebenszeit gibt mir niemand zurück. Sie ist einfach weg. Und mit fast 30 Jahren stehe ich am Anfang meines bewussten Lebens und weiß nicht weiter.

 

 

Es begann damit, dass ich meinen Job aufgrund meiner mangelnden Belastbarkeit und den vielen Fehlzeiten verlor. Ich wurde geschieden, musste Insolvenz anmelden, da ich mit dem fehlenden Einkommen und niemandem, der mich finanziell unterstützen konnte, den Studienkredit nicht mehr zurückzahlen konnte. Die ersten Vollstreckungsbescheide landeten in meinem Briefkasten. Ich verlor Freunde, die nicht verstanden, wieso "es auf einmal alles nicht mehr geht". Und ich verlor fast mein Leben und eine Niere, da ich aufgrund der dissoziativen Struktur in meinem Inneren nicht einmal merke, wenn ich schwer krank bin. Man hat ja keinerlei Bezug zu seinem Körper. Und das innerhalb weniger Monate.

 

 

Alle Wiedereingliederungsversuche in den Beruf schlugen fehl und nach langen Jahren der Therapie verstand ich, dass ich nicht alleine in meinem Körper bin, sondern ihn mir mit vielen teile, die eben nicht arbeiten, lesen oder autofahren können und zum großen Teil all die schlimmen Erinnerungen für mich bewahren, damit "ich" nach außen ein Leben führen kann.

 

 Ich erfuhr von Kellern, Käfigen, Kameras und Filmstudios, von Kunden und Teilen von mir, die nur wissen, dass sie alles tun müssen, was man von ihnen verlangt. Die nur Bestrafung und F**** kennen. Ich erfuhr, dass der Mensch, der mich hätte schützen müssen, in mir nur eine Geldquelle sah. Rechtlos. Ware. Die auch entsorgt werden kann, sollte sie nicht mehr reibungslos funktionieren. Ich erfuhr von dem unvorstellbaren Zeitraum von Kleinkindalter bis zur Volljährigkeit immer wieder abgeholt worden zu sein.

 

Das Schlimmste, was ich aber kennenlernen musste, ist der Unglauben und der Unwille der Gesellschaft zu helfen und zu glauben.

 

 

"Such dir einen Job, dann geht es dir besser."

"Du bist doch nicht wirklich krank, du siehst doch völlig normal aus."

"So schlimm kann es nicht gewesen sein, sonst hättest du kein Abitur und Studium."

"Heuchlerin"

„Das verstehe ich nicht, wieso Sie das so lange mitgemacht haben. Sagt man dann nicht irgendwann Nein?“

„Denken Sie nicht, nur weil Sie jung und hübsch sind, dass die Krankenkasse Ihnen alles bezahlt.“

„Könnten Sie das bitte mit einem Halstuch verdecken? Was Sie in Ihrer Freizeit treiben, interessiert hier niemanden.“

„Kann ich Sie kurz persönlich sprechen? Wir möchten hier nicht, dass Sie mit jemanden über all das reden. Wenn Sie wieder in den Beruf einsteigen, dann interessiert sich Ihr Arbeitgeber auch nicht für Ihre Vorgeschichte. Sie müssen einfach abliefern.“

„Vielleicht ist es besser, wenn wir den Arbeitsvertrag aufheben. Ich habe Ihre langen Fehlzeiten nicht aus sentimentalen Gründen toleriert, sondern weil Sie für mich einen wirtschaftlichen Mehrwert haben.“

 

Heute ist wieder ein schlimmer Tag. Es gibt nur sehr wenige Menschen, mit denen man offen sprechen kann, wer will all das schon hören? An diesen Tagen weiß ich nicht, ob das ein lebenswertes Leben ist.

 

Je mehr wir darüber reden, desto größer ist unsere Hoffnung, dass sich etwas verändert. Wir sind keine Dunkelziffer. Wir sind Menschen & wir brauchen Hilfe und Sicherheit. Und jemanden, der zuhört, validiert und uns nicht als faul oder verrückt betrachtet. Eine Last für die Gesellschaft. Die sich durch ihr Wegsehen und ihre Mithilfe mitschuldig gemacht hat! Redet endlich darüber! Bitte! Kein Kind will F****, Kinderf*****dokumentationen und Kunden bedienen! Seht hin und senkt nicht bestürzt euren Blick! Hört hin und wendet euch nicht ab! Bitte!