Meine erste Missbrauchserfahrung liegt schon viele Jahre in der Vergangenheit. Eines der Argumente meiner Familie, weshalb es doch nicht mehr so schlimm sein könne. Aber ich sollte von vorn beginnen.
Ich war etwa vier Jahre alt, als der Vater meiner Mutter sich an mir verging. Ich war jung, naiv und leicht zu beeinflussen. Eines Abends, als er bei uns zu Besuch war, ging ich zu ihm, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Er hieß mich neben sich auf das Bett setzen und begann mir über den Rücken zu streichen. Diese Art der Zärtlichkeit war etwas Bekanntes und Geliebtes für mich, jedoch blieb es nicht dabei. Er zog mein Höschen aus und strich mir über die Schenkel, über den Schambereich und nahm schlussendlich meine Hand in die seine, legte sie auf sein erigiertes Glied und strich mit ihr darüber.
Es ist, als wäre es erst gestern gewesen; ich erinnere mich daran, welche Kleider ich trug, was er trug.
Ich glaube nicht, dass ich es jemals vergessen werde. Als er fertig war, sagte er mir, dies sei normal, wenn man sich liebhabe, ich solle dennoch niemandem davon erzählen, denn es sei unser Geheimnis.
Also sprach ich nicht darüber. Erst einige Jahre später erzählte ich es der Mutter meiner besten Freundin, welche sofort meine Mutter kontaktierte. Was danach geschah, ging mehr oder weniger an mir vorbei. Nur aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass sie sich an eine Hilfsgruppe für Frauen wandte und ihren Vater zur Rede stellte.
Zu einer Anzeige kam es nicht. Im Nachhinein bin ich enttäuscht und fühle mich im Stich gelassen, wenn ich darüber nachdenke.
Ich hatte mir mehr Schutz erhofft. Die unverhältnismäßige Reaktion auf den Missbrauch war etwas, das innerhalb meiner späteren Psychotherapie im Erwachsenenalter immer wieder zur Sprache gekommen ist - das verlorene Urvertrauen zu meinen Eltern.
Angesprochen auf die Ereignisse dieses Abends, verteidigte sich mein Großvater damit, dass ich das Geschehene so gewollt hätte. Für ihn gab es keine nennenswerten Folgen. Wir fuhren weiterhin zu den Großeltern und Jahr um Jahr wurde mir die Falschheit der damaligen Ereignisse bewusster und mein Widerwillen wuchs. Dennoch prägte sich dadurch auch mein Verständnis körperlicher Nähe, schließlich handelte es sich dabei um etwas Normales.
Mein zweites Missbrauchserlebnis wurde durch diese Prägung begünstigt, dessen bin ich mir sicher.
Ich war etwa neun Jahre alt und ein Freund meines Bruders - ich schätze er muss etwa 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein, zog mir in meinem Zimmer meine Hose herunter und streichelte ebenso meinen Kitzler und Schambereich. Ich hielt ihn nicht auf. Alles, was ich sagte war, er solle sich seine Fingernägel schneiden, da es sonst unangenehm sei.
Rückwirkend betrachtet schockiert es mich sehr, dass ich damals schon mein Schicksal als Lustobjekt anderer Männer angenommen zu haben schien. All diese Erfahrungen prägten mich, nahmen Einfluss auf mein Selbstwertgefühl, mein Vertrauen zu anderen und mein Verhältnis zu meiner Familie. Ich liebe meine Eltern, aber habe ihnen lange Zeit nicht verziehen, dass sie mich damit so alleine gelassen haben. In meiner Jugend, wenn ich das Thema des großväterlichen Missbrauchs zuhause ansprach, hatte ich immer das Gefühl, auf Abwehr zu stoßen, als sei es etwas, worüber meine Mutter nicht nachdenken möchte. Einerseits verstand ich das, schließlich handelte es sich um den Mann, der für sie ein Idol darstellte. Trotzdem finde ich, sie hätte sich für ihr Kind entscheiden müssen.
Das Geschehene blieb ein Geheimnis vor den anderen Mitgliedern der Familie und erst als mein Großvater sich an meiner zwölfjährigen Pflegecousine vergriff, kam alles wieder hoch. Ich muss etwa 16 Jahre alt gewesen sein, als es dazu kam. Ich erlebte eine Retraumatisierung, weinte, schrie, raufte mir die Haare und ließ mich nicht beruhigen. Ich übertrug meinen Schmerz auf ihre Situation litt mit ihr und mit dem vierjährigen Mädchen, dessen Kindheit damals genommen wurde.
Nun erfuhr auch der Rest der Familie davon und ihre Reaktionen waren noch enttäuschender und verletzender als die meiner Eltern.
Ich war konfrontiert mit Unglauben und Anschuldigungen der Undankbarkeit.
Noch schlimmer traf es jedoch meine Pflegecousine, denn ihr glaubte niemand. Ihre Wunden waren frisch und sie war alleine.
Heute habe ich so gut wie keinen Kontakt mehr zu meiner Familie, abgesehen von meinen Eltern und Geschwistern. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich meine Vergangenheit annehmen kann. Natürlich führte sie dazu, dass ich sehr schnell erwachsen wurde, verursachte einen Kampf mit mir selbst und viele Probleme. Dennoch macht sie mich zu der Person, die ich heute bin und ich bin sehr stolz auf diese Frau.
Ich werde mein Leben lang die weitreichenden Folgen meiner Erlebnisse neu entdecken und wiedererkennen.
Was mir passiert ist, wird immer ein Teil von mir bleiben, aber ich weigere mich, ihm Macht über mich zu geben.
Ich finde es essentiell, dass das Schweigen bezüglich von Missbrauch generell, aber insbesondere von Missbrauch innerhalb der Familie gebrochen wird. Es muss thematisiert werden und es muss dagegen vorgegangen werden, dass in vielen Fällen die Schuld noch immer bei den Opfern gesucht wird.
mail@cou-rage.de
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