Wenn ich gefragt werde, wie meine Kindheit war, antworte ich immer damit: "Ach ich bin in einem strengen Elternhaus aufgewachsen, aber ich war viel draußen." Doch ich erkläre selten, was ich damit meine. Es war für mich als Kind normal, geschlagen und beleidigt zu werden. Mir fiel erst auf, dass bei mir Zuhause etwas anders ist, als ich die ersten Male bei Freunden übernachtet hatte. Als ich dann in die Pubertät kam, rebellierte ich. Ich hatte das "Glück", dass meine Eltern sich getrennt hatten. So konnte mein Vater mir nicht mehr viel tun, leider war meine Mutter sehr kaltherzig und ich konnte mich nie mit ihr über die ganzen Ereignisse unterhalten. Heute denke ich, dass sie ihre eigenen Gedanken und Sorgen hatte und meine dabei nicht gesehen hat. Da ich mich nie wie zu Hause gefühlt habe, war ich immer unterwegs. Ich war bei Freunden, bei Verwandten und irgendwann auch bei Unbekannten. Ich wollte überall sein, nur nicht "Zu Hause".
Leider passiert dann das, was mich zu dieser Zeit endgültig gebrochen hat. Ich übernachtete bei einem Bekannten. Es war an meinem 15 Geburtstag. Er war 19. Den ganzen Abend war er freundlich und zuvorkommend. Es tat gut, gesehen zu werden. Er kochte mir sogar Essen und lud ein paar Freunde von sich ein. Er sagte immer wieder, er möchte mir einen schönen Geburtstag machen, da ich ihn nicht zu Hause feiern kann. Er goss mir auch immer wieder Sekt ein. Doch ich sagte dazu auch nicht nein. Natürlich vertrug ich das nicht sehr gut und er brachte mich in sein Schlafzimmer damit ich mich ausruhen konnte. Dabei dachte ich sogar: "er ist so nett!" Ich kann mich nur verschwommen an den Rest erinnern. Ich bin eingeschlafen und irgendwann wieder aufgewacht. Als ich aufwachte, war er gerade dabei mich auszuziehen. Zuerst war ich überrascht und wusste das nicht einzuordnen. Schnell wurde mir klar WAS er vorhatte. Ich wollte mich wegdrehen, doch er war einfach zu stark. Er legte sich mit seinem ganzen Körper auf mich und ich konnte kaum atmen noch mich bewegen.
Irgendwann habe ich nur noch geweint und gehofft, dass es bald endet. Doch das Ende war noch viel schlimmer. Als er fertig war, stieg er von mir und ließ mich alleine liegen. Ich lag noch eine Weile da. Wie lange kann ich nicht sagen, jede Sekunde kam mir viel zu lange vor, doch mein Körper war mir so fremd, ich konnte mich kaum bewegen. Ich weiß noch, dass es in meinen Ohren unglaublich laut gerauscht hatte. Irgendwie schaffte ich es mich anzuziehen und aus der Wohnung abzuhauen. Er war dabei in der Küche und achtete nicht einmal auf mich.
Das Schlimmste waren die Stunden danach. Ich war einsam. Mein Körper tat weh und mein Herz. Ich fühlte mich leer und war einfach schockiert. Ich bin zu meiner Mutter gefahren. Sie schlief noch und ich ging duschen... Ich wusste nicht, dass man das nicht machen soll danach. Ich konnte mich dabei nicht ansehen und als ich merkte, dass er in mich gekommen ist musste ich mich übergeben. Ich wartete im Badezimmer auf dem Boden, dass meine Mutter wach wird.
Als sie wach war, und mich auf dem Boden sah, fragte sie zuerst: "Bist du besoffen?" Ich weinte einfach. Sie schaute mich nur an und ging dann weg.
Heute weiß ich, dass sie in diesem Moment wohl einfach überfordert war. Doch an diesem Tag war es ein Stich in meinem Herzen. Ich wollte, dass sie da ist! Ich lief ihr irgendwann nach und schaute ihr dabei zu wie sie Kaffee kochte. Dann sagte ich, dass ich vergewaltigt wurde. Ich sagte es leise und es war unglaublich schwer. Sofort hatte ich Bilder im Kopf und ich konnte nicht aufhören zu weinen. Sie wartete einen Moment und sagte dann: "Sicher?" Das gab mir den Rest. Ich bin einfach in mein Zimmer gegangen und habe geweint. Nach Stunden wollte ich wieder zu ihr, doch sie war zur Arbeit gefahren. Also tat ich das für mich richtige, ich packte Sachen ein und ging.
Ich habe mich danach versucht selbst umzubringen und hatte Glück (!) eine Freundin und deren Familie gehabt zu haben, die sich um mich kümmerten. Meiner Mutter warf ich dies sehr lange vor.
Am Schlimmsten war es, dass wir nie wieder darüber geredet haben. Und dies ist ein Teil von mir geworden. Ich kann nicht reden. Ich schaffe es nicht mich anzuvertrauen. Ich erzähle lieber nichts oder eine Lüge als das was in mir ist.
Mittlerweile fühle ich diesen Hass gegen meine Mutter nicht mehr. Wir haben keinen Kontakt mehr, und das ist gut. Es würde zu viel aufwühlen. Ich wünsche mir sehr oft, sie und ich könnten über die Jahre mit meinem Vater reden, was sie vielleicht durchmachen musste… Und auch über meinem 15. Geburtstag.
Ich bin dankbar, dass ich lebe. Ich bin dankbar einen Freund zu haben, der es akzeptiert, dass ich nicht reden möchte und dass ich Zeit brauche. Ich habe mich lange vor einer Therapie gesträubt und nun bin ich kurz davor eine anzufangen. Ich reflektiere mich selbst sehr ehrlich und habe gelernt mich um mich zu kümmern. Mir gut zu tun und mich nicht unter Druck zu setzen. Ich folge Vereinen und Organisationen, die sich mit dem Thema Gewalt und sexuellem Missbrauch auseinandersetzen und bin dankbar, dass ich so einen Weg habe zu reden ohne zu reden. Ich habe das Ziel, mich endlich zu öffnen und zu lernen es nicht zu unterdrücken.
Ich bin mittlerweile 23 Jahre alt, habe eine Tochter und lebe alleine mit ihr in einer wunderschönen Wohnung. Es ist an manchen Tagen sehr hart. Und ich weiß es wird mich mein Leben lang begleiten, ich versuche daran zu denken, dass ich glücklich darüber sein kann, dass ich dieses Leben habe und ebenfalls ein Leben lang daran arbeiten kann, es zu verarbeiten. Und dass ich anderen helfen kann, dass sie dieses Schicksal nicht teilen müssen.
mail@cou-rage.de
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